Göttervielfalt – Schöpfungsgeschichte und Mythos der Ägypter
Glühende Sonne, Wüstensand – soweit das Auge reicht und majestätische Pyramiden, die sich daraus erheben. Dies ist sicherlich mit das erste Bild, das sich vor dem geistigen Auge ergibt, wenn das Land Ägypten erwähnt wird.
Ägypten, das Land mit den eindrucksvollen Göttern und seiner phantastischen Schöpfungsgeschichte gibt immer neue Rätsel auf und hält viel Raum für Spekulationen bereit, da viele Menschen hier den Ursprung von Weisheit und Wissenschaft vermuten.
In der ägyptischen Kultur ranken sich unterschiedliche Legenden um die Entstehung der Menschen und ihre Schöpfungsgeschichte, da jede Stadt ihre eigenen Götter und Heiligtümer verehrte. Daher ist es durchaus möglich, daß so manch Gott oder Göttin in verändertem Aussehen oder unterschiedlicher Funktion in anderen Mythen wieder auftaucht.
Die Ägypter gingen davon aus, daß alles einen geordneten Anfang haben mußte, und in ihrer Kultur steht dafür ein Weltschöpfer, der aus sich selber erstand.
Die Schöpfungsgeschichte aus Heliopolis
Es gibt unterschiedliche Schöpfungsmythologien, doch zur bekanntesten und wohl auch abenteuerlichsten gehört bestimmt die der Stadt Heliopolis. Die dortigen Priester bauten ihre ganze Geschichte auf den Glauben von Re, dem Sonnengott auf. Der Name des aus sich selber entstandenen Gottes änderte sich im Laufe der Geschichte und Regierungszeiten der unterschiedlichen Pharaonen und hieß auch Atum oder Aton. Doch führen alle Legenden immer wieder auf den einen zurück.
Es heißt, Re sei aus dem Urgewässer entstanden und durch seine große Schöpfungskraft habe sich ein Ur-Hügel (Ben-Ben) erhoben, der es dem Sonnengott ermöglichte, das erste Land zu betreten. Als Urvater der Götter und Menschen erschuf er die Erde und den Himmel und zeugte und gebar seine eigenen Kinder.
Der Zeugungsakt wird in unterschiedlicher Weise geschildert, doch gilt einheitlich, daß er seine Kinder Shu, den Gott des Raumes zwischen Himmel und Erde sowie der Luft, und Tefnut, die Göttin des Wassers und der Feuchtigkeit aus seinen Körperflüssigkeiten schuf.
Den Legenden aus Heliopolis zufolge masturbierte Re und vereinigte die heraustretende Samenflüssigkeit mit seinem eigenen Schatten. Shu gebar er, indem er seinen Speichel ausspuckte und Tefnut entstand aus seinem Erbrochenen. Die Legende schreibt weiter, daß Re für einige Zeit von seinen Kindern getrennt wurde. Als er die beiden wiedersah weinte er Freundentränen. Diese fielen auf den Lehmboden und es entsprangen Menschen hervor, die heute als unsere Urahnen angesehen werden.
Shu und Tefnut waren ein Paar und zeugten und gebaren ein Zwillingspaar. Geb, den Gott der Erde und Nut, die Göttin des Himmels. Diese drei Generationen standen für die Grundelemente der Schöfung. Denn, auch wenn es noch keine Meßgeräte, keine wissenschaftlichen Erkenntnise und Forschungen gab, so war es doch selbstverständlich für diese hochentwickelte Kultur der Ägypter, daß mit diesen Elementen, Wasser, Erde und Luft überhaupt Fortpflanzung und Entwicklung möglich war.
Geb und Nut waren ein heimliches Paar und brachten wiederum fünf Kinder hervor. Nut war eigentlich die Gattin von Gott Re und als dieser erfuhr, daß Nut von Geb geschwängert worden war, verfluchte er sie. Der Fluch sollte bewirken, daß Nut in keinem Monat und in keinem Jahr Kinder bekommen sollte. Nut bekam von unerwarteter Seite Hilfe: Thot, der Gott der Wissenschaften und Hüter des geheimen Wissens war auch in Nut verliebt und wollte ihr helfen. Um den Ursprung von Thot ranken sich viele unterschiedliche Geschichten. Er könnte aus einem Schöpfungsmythos anderer ägyptischer Städte stammen, doch wird auch behauptet, er sei dem Schatten des Re ensprungen und stelle den Mondgott dar – auch "silberner Re" oder "silberner Aton" genannt. In den alten Schriften wird er als Mann mit einem Ibis-Kopf oder auch als Pavian dargestellt und wurde dem Mond gleichgesetzt.
Die Legende um Isis und Osiris
Thot schloß mit Re eine Wette ab. Bei einem Brettspiel wollte er um den 70sten Teil seines Mondlichts spielen und gewann. Re erkannte die Bedeutung dieses klug formulierten Wetteinsatzes nicht und mußte geschlagen zusehen, wie dem Jahr mit 360 Tagen fünf weitere hinzugefügt wurden. Dieser Umstand verhalf Nut zu fünf Kindern.
Am ersten Tag brachte sie Osiris, den Gott der Fruchbarkeit und den späteren Gott des Totenreichs und der Wiedergeburt zur Welt. Der zweite Tag wurde Haroeris geboren (auch Horus der Ältere genannt), der Gott des Tages, dessen Augen die Sonne und der Mond sind. Von Osiris und Haroeris wird behauptet, daß sie die Kinder von Re sind.
Am dritten Tage gebar Nut unter Schmerzen und widrigen Umständen Seth, den Gott des Kampfes und des Bösen. Am vierten Tag wurde Isis, die Göttin der Liebe, der Mutterschaft und der Zauberreiche geboren. Ihr Vater, so heißt es, sei Thot. Der fünfte Tag brachte Nephthys hervor, die Göttin der Frauen und des Hauses (Herrin des Hauses). Seth und Nephthys sollten Kinder des Geb sein.
Von Osiris wird auch behauptet, daß er schon im Mutterleib in Isis verliebt war und Haroeris das Produkt einer vorgeburtlichen Zeugung war.
Die Liebe des Osiris zu Isis überdauerte auch die Geburt und er nahm seine Schwester zur Gemahlin. Als Einheit schufen sie in Ägypten das sogenannte "Goldene Zeitalter". Osiris war gütig und verhalf den Mensch zu Wohlstand und handwerklichen Künsten. Er lehrte sie den Ackerbau und den Sinn für Schönheit und Kunst. Beide, sowohl Isis als auch Osiris wurden als schöne, zärtliche und kluge Götter verehrt. Isis galt zudem als große Erfinderin, die den Austausch und Handel mit fremden Herrschern förderte.
Seth vermählte sich mit seiner unattraktiveren Schwester Nephthys und war im Gegensatz zu seinem Bruder Osiris, faul, bösartig und brutal. Seth war neidisch auf auf das erfolgreiche und gliebte Paar und sann nach einem Plan, um Osiris und Isis die Herrschaft über die Menschen zu entreißen.
Der Brudermord
Seth lud seinen Bruder Osiris zu einem großen Fest ein. Isis warnte Osiris vor Gefahr und Verrat und bat Osiris der Einladung nicht Folge zu leisten. Doch Osiris, voller Gutmütigkeit und frei von Mißtrauen, nahm die Einladung zum großen Festmahl an.
Seth hatte sich die Köpermaße von Osiris besorgt und eine Truhe aus edelsten Hölzern und feinsten Verziehrungen mit diesen Angaben erschaffen lassen. Diese bot er auf seinem Fest als Geschenk für den jenigen, dessen Maße identisch mit denen der Truhe waren. Mehrere Gäste versuchten ihr Glück, doch nur Osiris gelang es, in der Kiste vollkommen Platz einzunehmen. Der listige Seth, verschloß sofort die Kiste, als Osiris darin zum Liegen kam, übergoß sie mit flüssigem Blei und versenkte sie im Nil.
Isis war außer sich vor Trauer als sie die Kunde über den Tod ihres geliebten Gatten erhielt, doch erst Kinder gaben ihr den Hinweis über den Brudermord und den Tathergang.
Dies bewegte Isis so sehr, daß sie den Kindern die Gabe schenke, Wahrheit zu sprechen , wenn deren Eltern sie vergessen haben sollten. Sie begab sich auf die Suche nach der Truhe und erfuhr von Nephthys, daß Osiris, im Glauben mit Isis vereint zu sein, ein Kind mit ihr gezeugt hatte. Nephtys hatte sich durch eine List einen Beischlaf mit Osiris verschafft, da Seth keine Kinder zeugen konnte. Da Nephthys jedoch die große Wut ihres Gatten fürchtete und nun Angst um das Leben ihres Kindes hatte, gab sie es Isis. Diese nannte es Anubis und erwählte ihm die Pflicht Menschen und Götter zu bewachen. Isis setzte ihre Suche nach dem geliebten Osiris fort und fand die Kiste in einer phönizischen Stadt namens Byblos. Mittels ihrer magischen Kräfte erweckte sie Osiris wieder zum Leben, indem sie in Gestalt eines Sperbers, über ihm schwebend, mit ihren Flügeln ihm den Lebensatem wieder einfächelte. Der wiedererweckte Osiris vereinigte sich mit ihr und Isis empfing von ihm Horus.
Die Wiederholung des Brudermordes und die mißglückte Wiederbelebung
Seth blieb die Wiederbelebung nicht verborgen. Er suchte Osiris, zerstückelte seinen Leib in vierzehn Teile und verstreute dreizehn über das ganze Land. Das letzte Teil, den Penis, warf er allerdings ins Meer. Die treue Isis suchte wiederum alle Teile ihres Mannes zusammen um einen weiteren Versuch der Wiederbelebung zu unternehmen.
Sie setzte die Teile mit Hilfe von Anubis zusammen, der den Körper zusammennähte, mit Leinenbinden bandagierte und schließlich einbalsamierte. Aufgrund dieser Durchführung wird ihr auch die Erfindung der Einbalsamierung nachgesagt. Den vierzehnten Teil, jedoch konnte Isis nicht mehr ausmachen. Ein Krokodil hatte wohl zwischenzeitlich Geschmack daran gefunden und es unwiederbringlich verspeist. Isis versuchte den Mangel des wichtigsten Teiles mit einer Holzprothese auszugleichen, doch dieser Versuch schlug fehl und Osiris konnte nicht erneut zum Leben erweckt werden, da sein Körper nicht vollständig war. Da nun Osiris der erste Gott war, dem das Leben nicht vergönnt sein sollte, erhob er sich zum Herrscher über das Totenreich.
Isis aber, aus Angst, Seth könne ihr auch den geliebten Sohn nehmen, setzte Horus mit einem Körbchen auf dem Nil aus. Sie hegte die Hoffnung, Menschen würden ihn finden und großziehen. Tatsächlich wurde Horus gerettet und wuchs in dem Glauben auf, ein Mensch zu sein. Horus entwickelte sich zu einem starken und gutaussehenden jungen Mann, als ihm seine Ziehelten die Wahrheit über seine Herkunft verrieten. Horus wollte die Taten des Seth, der inzwischen uneingeschänkt über ganz Ober- und Unterägypten herrschte, rächen und rüstete sich zum Kampf.
Der gnadenlose Krieg
Unterstützung fand er bei Osiris, der als Gott der Toten ihm die Kunst des Kämpfens lehrte und ihn mit Waffen und Ausrüstung versorgte. Horus Kampf mit Seth sollte Jahrhunderte dauern und anfänglich hatte Horus viele Mitstreiter und Verbündete. Isis stand ihm stets zur Seite, sowie seine Tante Nephthys, die sich seit dem Brudermord von ihrem Gemahl Seth getrennt hatte und Isis so gut wie möglich unterstützte. Auch Thot und Anubis hielten Stellung bei Horus. Doch Horus, von blinder Wut und wilder Entschlossenheit getrieben, verlor die Beherrschung, als Isis menschliche Kriegsgefangene, die von Horus eingekerkert waren, befreien wollte. Er schlug ihr mit dem Schwert den Kopf ab und nur durch die heilenden und magischen Kräfte des Thot konnte ihr Sterben verhindert werden.
Die Götter wandten sich von Horus ab und er kämpfte einen einsamen Krieg mit Seth, allerdings auf Kosten der Menschen, die als Heer und Kampftruppen dienten. Nach einem jahrelangen, nicht enden wollenden Krieg verfiel das Land und die Verwüstungen machten sich durch Fehlernten und Zerstörung der Kultur bemerkbar. Horus holte zu einer letzten großen Schlacht gegen Seth aus. Er hatte Krieger mit besonders starken Waffen ausgerüstet und richtete eine verheerende Verwüstung und ein unendliches Blutbad unter den Männern des Seth an. Doch die Schlacht blieb unentschieden. Da bisher hauptsächlich Menschen den Kampf gegeneinander antraten, doch diese nun zum größten Teil von Horus Kampftruppen niedergemetzelt waren, trat Seth im Duell mit Horus zusammen. Seth verlor das Duell und damit auch die Herrschaft über Nubien.
Beherrscht von Haß und Grausamkeit suchte der geschlagene Seth, Horus in der Wüste und fand ihn schlafend in einer Oase. Er riß ihm beide Augen heraus, wobei eines für die Sonne galt, das andere für den Mond, vergrub diese in den Bergen und wähnte nun endgültig seinen Rivalen besiegt. Aus den begrabenen Augen, so heißt es, wuchsen Lotusblüten heraus, denen es zu verdanken ist, daß Sonne und Mond ihren Kreislauf weiterhin führen durften.
Die Teilung des Ägyptischen Reiches
Horus jedoch wurde von Hathor gefunden. Von Hathor heißt es, sie sei aus den Augen des Re direkt entstanden, als er in eine Lotusblüte blickte und seine Tränenflüssigkeit in die Blume tropfte. Allerdings hieß Hathor zum Zeitpunkt ihrer Erschaffung noch Sachmet und wurde von Re ausgesandt die Menschen von ihren bösen Taten abzuhalten. Doch Sachmet verfiel in einen Blutrausch als sie Menschen davor bewahren sollte, sich weiter dem Kampf von Seth und Horus hinzugeben und tötete selber. Mit Hilfe von Thot machte Re sie betrunken und verwandelte sie in die Göttin Hathor, die nun über die Schönheit, den Frieden, die Liebe und die Kunst wachen sollte. Hathor beugte sich über den weinenden Horus, ihrem späteren Gemahl, benetzte seine Augen mit Gazellenmilch und gab ihm mit Hilfe von Zauberkraft sein Augenlicht wieder.
Da aus dem Duell immer noch kein eindeutiger Gewinner hervorging und Horus und Seth ihre Kriege weiterführten, befürchtete der alternde Re langsam das Ende der Welt. Er wollte der Zerstörung des Erdreiches und der Menschen ein Ende setzen und mahnte den Krieg zu beenden. Er rief all seine Götter zusammen und beriet mit ihnen die Wahl von einem der beiden Kämpfer zum Pharao über Ägypten.
Die Götter konnten sich nicht einigen und baten Neith, die Göttin der Weisheit um eine Entscheidung. Sie wählte Horus, doch Seth war mit dieser Wahl nicht einverstanden und führte den Krieg weiter. Schließlich bat man Osiris um Hilfe, der nun langsam den anderen Göttern grollte, da sie dem ganzen Gemetzel tatenlos zugesehen hatten. Er verlangte die Entscheidung Neiths zu akzeptieren und um einen Ausgleich zu schaffen, empfahl er die Teilung des Reiches. Seth sollte fortan über das "Rote Reich" dem lebensfeindlichen Wüstenland von Ägypten herrschen und Horus sollte das "Schwarze Reich" bekommen, den fruchtbaren und reichen Teil des Landes.
Alle Grundlagen dieser Mythologie sind eine Verschmelzung frühester mündlicher Erzählungen, zusammen mit späteren schriftlichen Überlieferungen, die immer die Färbung des jeweils herrschenden Pharaos und dessen Gottgläubigkeit hatten. Je nachdem welcher Tempel in welcher Stadt als Schwerpunkt galt. Insgesamt reichen die Aufzeichnungen der ägyptischen Kultur über 3000 Jahre zurück und sollte da der eine oder andere Gott mal einen anderen Namen erhalten haben, so bleibt doch der Grundriß einer vielfältigen Götterwelt mit all ihren menschlichen Stärken und Schwächen erhalten.